Dienstag, 6. März 2012

“Wenn du im Mai zurückkommst und nichts ist geschehen, wirst du eine ganze Gemeinschaft ohne Essen sehen.”

Die Älteren unter den Einwohnern des Dorfes Benena in Mali (rund 400 Kilometer von der Hauptstadt Bamako entfernt, an der Grenze zu Burkina Faso) erinnern sich noch an die Jahre 1973-74 und schütteln ihren Kopf. Das sei das letzte Mal gewesen, dass sie eine derart schlimme Unterversorgung mit Nahrungsmittel erlebt hätten, sagen sie.
Yissibe, ein Dorfvorsteher, sitzt auf einem kleinen Stuhl in einem verdunkelten, engen Raum. Er spricht langsam, fast um Entschuldigung bittend, und starrt auf den staubigen Lehmboden vor sich. Er schäme sich, sagt er. „In jedem anderen Jahr würden wir dich mit Essen und Geschenken willkommen heissen… aber dieses Jahr...“. Er schaut traurig auf, lässt den Satz unvollendet in der stickigen Luft hängen. Mit den Statistiken ist es nicht schwierig, den Satz zu beenden und ein grösseres Bild zu zeichnen: Drei Millionen Menschen in Mali sind von der Lebensmittel- und Ernährungskrise betroffen, wovon 1,1 Millionen Menschen rasche Hilfe benötigen.

Doch hinter diesem grösseren Bild und den hohen, alarmierenden und gleichzeitig unpersönlichen Zahlen stecken viele kleinere Bilder – und Menschen in Fleisch und Blut, jeder mit einer eigenen Geschichte.

Zama Sanou: 45 Jahre alt, Vater von sieben Kindern, fünf Mädchen und zwei Knaben.

Zama sitzt vor seinem Lehmhaus auf der Bank neben seiner Frau und einigen der Kinder. Seine roten, feuchten Augen und sein müdes, verschlossenes Gesicht stehen in scharfem Kontrast zu seinem traditionell fröhlich-farbigen – rot/gelb/weissen – Hemd und der passenden Hose. Normalerweise baut er Hirse und Sorghum an – Grundnahrungsmittel in Mali -, aber letztes Jahr, sagt er, wuchs nichts auf seinem Feld, weil es nicht geregnet hatte. „Wir haben nichts“, wiederholt er und erklärt, dass sie alles kaufen müssten. Wobei auch „alles“ nicht gerade viel ist. In der Regel ist es ein 20-kg-Eimer Hirse, von der sich die Familie eine Woche lang ernähren muss. Wenn er Geld hätte, würde er auch kleine Dinge wie Erdnüsse oder Gewürze für den Hirseteig kaufen. Der wöchentliche Hirsevorrat kostet etwa 4‘000 CFA (etwas mehr als sieben Schweizer Franken), das Doppelte als noch vor einem Monat. Er mache sich Sorgen wegen des steigenden Preises, meint er. Obwohl die Behörden die Preise kontrollieren bzw. dafür sorgen sollten, dass sie nicht ins Unermessliche steigen, können sie die Händler in Tat und Wahrheit so hoch drücken, wie sie wollen.

Er weiss, dass er sparen könnte, wenn er grössere Mengen einkaufen würde. Aber er kann es sich nicht leisten und muss schauen, dass er von einer Woche auf die andere, von einem Tag zum anderen überlebt.

Und „überleben“ ist wortwörtlich gemeint, denn seine Familie, so erzählt er weiter, habe nie genug zu essen. „Wir gehen nie mit vollem Magen ins Bett.“

Seinen Lebensunterhalt verdient er, indem er sich mit einem Nachbarn einen kleinen Marktstand teilt. Der Nachbar macht Kleider, Zamas Aufgabe ist es, die neuen Kleider und die Kleider, die die Dorfbewohner bringen, zu bügeln. An guten Tagen verdient er bis zu 2‘000 CFA pro Tag (ca. CHF 3,60). Aber es gibt immer weniger Leute, die sich den Luxus leisten können, ihre Kleider bügeln zu lassen. So ist er schon zufrieden, wenn er an einem Tag 500 CFA (90 Rappen) verdient.

Der Lebensmittelmangel und die Notsituation haben Zamas ganzes Dorf getroffen. Diebstahl war nie ein Thema in Benena, aber jetzt kommt es plötzlich vor, dass der eine dem anderen etwas stiehlt. Und es sind immer Lebensmittel, die verschwinden, nichts anderes. Vielleicht sagt Zama deshalb ohne Spur von Wut oder Hass, dass er, obwohl ihm ein Huhn und ein paar Körner gestohlen wurden, verstehe und verzeihe. „Wir wissen alle, dass diejenigen, die gestohlen haben, es aus reiner Not getan haben. Sie haben nichts zu essen und sind hungrig. Es steckt keine Bosheit dahinter, deshalb zeigt niemand die Diebstähle an. Wir verstehen und verzeihen.“

Während wir reden, zieht eine Herde Ziegen vorbei. Die Tiere fressen den herumliegenden Müll. Da die Menschen genug damit zu tun haben, sich Essen zu besorgen, überlässt man die Tiere sich selber. Sie wandern herum und suchen Futter. Meistens finden sie aber nur Müllhaufen.

Zama versucht zu lächeln, als er uns seinen Marktstand zeigt. Mit seinem schweren, geschwärzten Bügeleisen verdient er magere 90 Rappen pro Tag. Aber es ist ein trauriges Lächeln, voller Ungewissheit, was mit seinem und dem Leben seiner Familie in Zukunft sein wird.

Adama Goro: 39 Jahre alt, verheiratet mit Djenebe, Vater von fünf Kindern, die jüngsten sind 7 Monate alte Zwillinge.

Adama sorgt zudem für seinen Vater und zwei jüngere Brüder, die immer noch zur Schule gehen und seine Unterstützung brauchen.

Wie er das schafft? Er sitzt im Schatten eines Mangobaums, umringt von seiner Familie, und erzählt, dass er von Beruf eigentlich Bauer sei. Er besitzt drei Hektaren Land, worauf er Hirse, Sorghum und Fonio (ähnlich wie Couscous) anbaut. Letztes Jahr jedoch hatte seine gesamte Ernte in einem Eselskarren Platz. Davon ist nur wenig übriggeblieben und die nächste Ernte ist erst in acht bis neun Monaten. Vor zwei Jahren hat er deshalb mit der Herstellung von Sieben begonnen, um etwas dazu zu verdienen. Der Siebstapel, der vor uns liegt, vermittelt den Eindruck, es sei eine schnelle und einfache Arbeit. Aber der Prozess ist lang und anstrengend. Zuerst muss Adama auf dem Markt Holz einkaufen und das Material nach Hause bringen. Dort lässt er es drei Tage lang im Wasser aufweichen, bevor er es sorgfältig klopft, um es verformbar zu machen.

Die Siebe zu verkaufen ist eine andere, genauso langwierige und aufwändige Sache. Früher konnte er sie in seinem Dorf oder in der Nähe verkaufen. Heute muss er immer weiter reisen. Adama führt uns zu einem anderen Baum, wo sein altes und rostiges Velo mit geflickten Reifen steht. Er fährt täglich bis zu 30 Kilometer unter der gleissenden Sonne (40 Grad war es an dem Tag, an dem wir ihn trafen), müde und meistens leicht benommen, weil er nichts gegessen hat. Bei einem Preis von 60 CFA (ca. 10 Rappen) muss er vier Stück verkaufen, damit er ein Kilogramm Hirse kaufen kann.

Doch der Verkauf gestaltet sich immer schwieriger, denn die meisten Leute können sich – wenn überhaupt – nur Lebensmittel kaufen.

Adama und seine Frau Djenebe machen sich Sorgen. Djenebe hat Angst um ihre Kinder und deren Zukunft. Sie ist 27 Jahre alt und hat fünf Kinder, das älteste 12. Sie hat früh geheiratet und konnte nie zur Schule gehen. Sie will nicht, dass ihre Kinder das gleiche Schicksal teilen. Sie sollen zur Schule gehen, sagt sie, damit sie ein besseres Leben haben.

Doch so wichtig ihnen die Bildung ist, machen sie sich im Moment mehr Sorgen darüber, ob sie ihren Kindern am nächsten und am übernächsten Tag etwas zu essen geben können.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen