Montag, 20. Februar 2012

Lauren Fisher berichtet aus Niger

Unsere amerikanische Mitarbeiterin Lauren Fisher wird in den kommenden Wochen aus Westafrika berichten, um die drohende Hungersnot in der Sahelzone aufzuzeigen. Sie wird ebenso über die Sorge und Verzweiflung der Menschen im Niger wie auch über die Arbeit, Erfolge und Erfahrungen der Einsatzkräfte berichten.
Es war der beste Moment des Tages. Nicht das Lächeln und Winken der Dorfbewohner, nicht der Klang und Anblick des sprudelnden, kostbaren Wasserstrahls, der sich in die wartenden Eimer ergoss, nicht einmal die Freude der Kinder über das seltsam klickende Ding namens Kamera. Der Augenblick, der uns alle so zum Lachen brachte, dass uns fast die Tränen kamen, entstand durch den kleinen Aufheuler eines zweijährigen Kindes.
Die Krankenschwester hatte gerade versucht, die Tüte mit Erdnusspaste, die der kleine Hassan fest mit seinen Händchen umklammerte, in einen anderen Winkel zu bringen. Kurz zuvor hatte Hassan noch regungslos im Arm seiner Mutter gelegen und sich nur protestierend bemerkbar gemacht, als ihn die Krankenschwester wiegen wollte. Wir brauchten weder den Zeiger auf der Waage noch den roten Marker auf dem Oberarm, um zu sehen, dass Hassan schwer unterernährt ist. Mit seinen mageren Ärmchen und dünnen Beinchen wirkte er auf mich viel eher wie ein Baby als ein zweijähriges Kleinkind. Hassan brachte nur 8 kg auf die Waage.
Später folgten wir seiner 17jährigen Mutter und seiner Großmutter durch ihr Dorf zu ihrem Heim.
Auf bunten Strohmatten sitzend und von Hassans Cousins und Cousinen umringt, hörten wir ihre Geschichte. Sie brachten Hassan zur Klinik, als er krank wurde. Die Hungersnot im Sahel ist für sie eine sehr persönliche Realität. Kein Regen bedeutete keine Ernte, und keine Ernte kein Essen in der Vorratskammer. Wenn auch das Geld zum Einkaufen fehlt, gehen sie hungrig ins Bett, ohne an dem Tag etwas gegessen zu haben. Hassans Vater ist nach Nigeria gegangen, um dort Arbeit zu suchen. Wegen der Unruhen in Nigeria gibt es aber nur wenige Jobs. So wartet und hofft die Familie, und die Kleinsten und Schwächsten wie Hassan quält der Hunger am meisten. Deshalb sind wir hier.
Wegen der Diagnose „schwer unterernährt“ erhält Hassan die mit Vitaminen und Proteinen angereicherte Erdnusspaste. Zuerst aber macht die Krankenschwester einen kleinen Test mit ihm: Ist der Junge stark genug, die feste Nahrung zu sich zu nehmen? Hassans Familie und andere Mütter schauen still zu, während Hassan das kleine Päckchen in die Hand bekommt. Zuerst lutscht er langsam und zögernd an der Paste, dann mit jedem Schluck immer fester. Als die Krankenschwester den Winkel des Päckchens verändert, hören wir den ungeduldigen Aufschrei. Hassan hat die rettende Nahrung genommen und will sie nicht wieder hergeben.
Oft hatte ich an diesem Tag das Gefühl, mit meiner Kamera eine zusätzliche Belastung für das schwer beschäftigte Personal der Klinik zu sein. Bei diesem Heulton aber dreht sich die Krankenschwester plötzlich zu mir um, schaut mir in die Augen und ihr ganzes Gesicht ist ein freudestrahlendes Grinsen. Die anderen Mütter klatschen. Es ist ein gutes Zeichen. Wir alle feuern Hassans Überleben an. Er hat gerade einen ersten Schritt zu einer neuen Chance aufs Großwerden gemacht.
Hier in Niger gibt es leider noch viele andere kleine Kinder, die das erst noch schaffen müssen. Etwa die beiden einjährigen Zwillinge, die mir winzig vorkommen. Ihre Mutter, selbst sehr dünn, hat keine Milch mehr für sie. Aus Scham behielt sie das Problem für sich, bis es nicht mehr ging.
Die Klinik behandelt an diesem Tag 108 unterernährte Kinder. Einige Mütter mussten mehr als 10 Kilometer laufen, um die Klinik zu erreichen. Die Krankenschwestern und Pfleger erzählen mir, dass es da draußen noch viele Mütter gibt, die dringend mit ihren Kindern kommen müssten. Doch während die Helfer von Kind zu Kind gehen, inmitten von Husten, Schniefen und Geschrei, bekomme ich eine Ahnung davon, was sie antreibt: die Hoffnung, dass sie wieder einem Kind im Kampf gegen den Hunger eine Chance geben können, pro Päckchen Erdnusspaste eine Chance.

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