Mittwoch, 29. Mai 2013

Der Blick der Verzweiflung

Es gibt ein Ding, das alle Flüchtlinge gemeinsam haben: ihren Blick. Es ist nicht nur ein Blick der Angst; nicht nur ein Blick der Not. Es ist ein Blick der Verzweiflung.
Seit ich in dem Bereich Kommunikation bei World Vision arbeite, habe ich Dutzende syrischer Flüchtlinge besucht, die innerhalb der letzten eineinhalb Jahre in den Libanon geflohen sind. Geflohen vor dem Konflikt in ihrer Heimat Syrien. Ich habe mit ihnen gesprochen und ihre Geschichten geteilt. Ich bin immer noch mit ihnen im Kontakt. Keiner der Flüchtlinge kann mir erzählen, wie sie sich genau ihre Zukunft vorstellen.
"Alahou Aâlam“, sagen sie nur. „Allein Gott weiß es.“

Meine Fragen sind immer wieder an alle Mitglieder der Familien gerichtet worden, aber eine Frage im Speziellen rührt jede syrische Mutter zu Tränen: „Wie hat Ihr Haus in Syrien ausgesehen?“ Keine der Frauen können den Satz beenden, ohne gegen die Tränen anzukämpfen. „Es war mein Paradies“, erzählt Abir, eine syrische Flüchtlingsmutter. „Ich hatte ein großes Haus mit einer großen Küche, einen Garten und ein Bett für meine Kinder.“ Abir und ihr Ehemann sowie ihre vier Kinder leben jetzt in einer Autogarage zusammen mit einer anderen Familie. Viele ihrer Besitztümer, einschließlich der Matten, auf denen sie auf dem Boden schlafen, sind befleckt mit Öl und Schmiere.

Die Gewalt in Syrien betrifft hier alle Menschen. Es sind nicht nur arme Gemeinden, die Flucht gesucht haben. Viele Menschen in den provisorischen Zelten im Libanon hatten einmal ein Haus, einen Job und eine Zukunft. Nichts von alledem allerdings ist sicher im Libanon oder in anderen Flüchtlingsländern.

Trotz ihrer Verzweiflung sind die syrischen Flüchtlinge froh über die Beziehungen und die Gemeinschaft, die sie derzeit finden. Sie kümmern sich um einander, und sie haben sich auch um mich gekümmert. Ich habe vor einem Monat meinen Vater verloren. Sein Tod war für mich verheerend. Ich versuche noch, damit zurechtzukommen. Doch was mich überrascht hat, war die Anzahl der Flüchtlinge, die mir Anteilnahme zuteil haben werden lassen. Sie leiden nicht nur an ihrer eigenen Situation, sondern empfinden auch Anteilnahme für den Verlust von anderen Menschen. Ich persönlich hatte das Privileg, am Grab meines Vaters zu weinen und bei seinem Begräbnis zu beten. Manche der syrischen Flüchtlingseltern, die ich getroffen habe, können das nicht tun. „Ich habe zwei Söhne bei einem Bombenangriff vor zwei Monaten verloren“, berichtet Shamma, eine syrische Mutter. „Ich habe gerade einen Anruf bekommen, worin ich von dem Tod in Kenntnis gesetzt wurde. Ich weiß nicht, ob sie begraben oder einfach auf den Straßenrand geworfen worden sind“, sagt sie.

Nach jedem Besuch bei den syrischen Flüchtlingen gehe ich nach Hause und teile mancher der Geschichten, die ich mit meiner Mutter gehört habe. Ich kann nicht umhin, eine gewisse Schuldigkeit zu fühlen, wenn ich zu meiner Mutter zurückkehre, die mich dann mit einem köstlichen Mahl empfängt.

Gott sei Dank erlaubt mir meine Arbeit mit World Vision, die Hilfe für 80.000 Flüchtlinge jedes Monat durch Essensgutscheine, die Bereitstellug von sauberem Wasser und Bildungsprojekte zu bezeugen. Doch die Anzahl der Flüchtlinge in der Region wächst von Tag zu Tag um Tausende; und ohne eine Aufstockung der Hilfsmaßnahmen werden wir bald nicht mehr ihre Bedürfnisse erfüllen können.

Patricia Mouammar, World Vision Libanon

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