„Wasser“, stöhnt Fatima. „Nur einen Schluck bitte...“
„Wir haben kaum noch Wasser“, erwidert Ahmed und späht in die Ferne. „Und Gott weiß, wie weit unser Weg noch ist.“
„Aber ich kann nicht mehr“, sagt Fatima leise.
Die junge Frau ist bereits so erschöpft, dass ihr jeder Schritt des Esels wie ein eigener erscheint, von Mal zu Mal beschwerlicher werdend. Die noch sengende Hitze des ausklingenden Tages, die drohende Erschöpfung und der weiche Wüstensand machen es Ahmed zunehmend schwerer, den Esel mit fester Hand durch die Wüste zu führen.
„Du musst durchhalten“, versucht Ahmet seine Frau zu ermutigen. „Vielleicht ist es ja nicht mehr weit.“
Fatima klammert sich mit schwindender Hoffnung an diesen Gedanken.
Und wenn es noch Tage sind? Das werden wir nicht überleben, weiß sie zugleich. Denn wenn ihr Ende gekommen ist, wird das auch den Tod ihres Babys bedeuten, welches sie unter ihrem Herzen trägt. Das ist für Fatima noch ein weitaus schlimmerer Gedanke.
Dann denkt sie nur noch an Wasser, das ihr Ahmed in Sorge an die nächsten Stunden vorenthält. An ein wenig Wasser für sie, um ihr ungeborenes Kind am Leben zu halten.
Wie kannst du nur so grausam sein, Ahmed? Fatima schafft es nicht, ihre Gedanken in gesprochene Worte zu fassen. Nicht meinetwegen – nur unseres Kindes wegen brauche ich Wasser.
Ahmed bleibt stehen. Würde er sich tatsächlich seiner Frau erbarmen?
Doch er scheint etwas anderes im Sinn zu haben. Ahmed kneift die Augen zusammen und legt die Handkante an die Stirn.
„Was siehst du, Ahmed?“ fragt Fatima nahezu stimmlos.
„Ich kann nur hoffen, das ist keine Fata Morgana“, entgegnet Ahmed und reibt sich kräftig seine Augen. Einige Augenblicke späht er noch still in die Ferne, bis er ruft: „Das ist… nein… das ist ein Haus… und dort auch… und dort drüben!“
Mit Mühe kann Fatima ihren Kopf heben, um sich schließlich desselben Blickes zu erfreuen.
„Gelobt sei der Herr!“ sagt sie mit zittriger Stimme. „Ahmed, das ist mehr als eine Siedlung…!
„Ja, Fatima, das ist eine ganze Stadt!“ ruft Ahmed und umarmt seine bereits sehr entkräftete Frau. Fatima selbst vermag es nicht mehr, ihren Mann zu umarmen. Sie versucht ihm etwas ins Ohr zu flüstern, doch es gelingt ihr nicht. Ahmed wagt es nicht mehr, seine Frau loszulassen. Er weiß, dass sie sofort vom Esel stürzen würde. Während er mit einer Arm Fatima festhält, greift seine andere Hand nach der Flasche neben dem Zaumzeug.
„Trink nur, Fatima, trink“, sagt er behutsam und flößt seiner Frau langsam Wasser ein. „Trink alles aus, gleich werden wir in der Stadt sein. Und dann wird alles gut werden.“
Das Trinken fällt Fatima so schwer, dass ein Teil des Wassers aus dem Mund wieder herausläuft und zu Boden rinnt.
„Wir sind ja gleich da“, sagt Ahmed nur und zieht die Leine. Der Esel setzt allerdings keinen Schritt voran.
„Nach mach schon, du faules Tier“, brummt Ahmed und reißt fester an der Leine. Doch der Esel bewegt sich keinen Millimeter von der Stelle.
Ahmed betrachtet den Esel. Müde und abgekämpft sieht er aus. Ahmed will und kann jedoch nicht warten. Er beschließt schließlich, so kurz vor der Stadt das Tier zurück zu lassen.
Ahmed nimmt Fatima auf seine Arme. Die letzten paar Hundert Meter will er seine Frau tragen. Er fühlt, dass seine Kräfte nicht ausreichen werden. Aber er möchte Fatima keineswegs allein zurück lassen, um Hilfe zu holen. Auch nicht für zwanzig Minuten. Das hat er sich bereits zu Beginn des langen Weges geschworen. Lieber ein paar Pausen machen, alle fünfzig Meter, und dann gemeinsam das Ziel erreichen, als Fatima auch nur eine Minute alleine zu lassen.
Dann wird alles gut werden, denkt Ahmed wieder und setzt sich mit zittrigen Knien in Bewegung.
Jeder Schritt wird beschwerlicher, während die Abendsonne hinter dem höchsten der Häuser allmählich verschwindet.
Ahmed kann gerade noch den ersten Stern auf dem Firmament erblicken, als er zu Boden fällt. Doch immer noch hält er seine Frau fest, die von alledem nichts mehr mitzubekommen scheint.
„He, wer seid ihr?“ hört Ahmed eine Stimme, dann wieder dieselbe Frage, nun schon deutlich klarer.
„Bitte helft uns! Wir bitten euch um Wasser, ein Stück Brot für meine Frau und einen Platz zum Übernachten!“ ruft Ahmed und kann die Gestalt des Fremden nur sehr unklar erkennen.
„Helfen?“ erwidert der andere und bleibt kurz darauf vor dem jungen Ehepaar erhobenen Hauptes stehen. „Wollt ihr wissen, wo ihr übernachten könnt?“
„Bitte…“, stammelt Ahmed. „Bitte sag es uns…“
„Dort, wo ihr hergekommen seid“, antwortet der Mann aus der Siedlung. „Wir haben schon genug Bettler wie Euch aufgenommen. Ist die Frau wohl ein Kind? Noch schlimmer. Meint Ihr wohl, Platz für so viele Leute zu haben? Und dann noch Probleme mit dem Jugendamt oder der Einwanderungsbehörde bekommen zu wollen? Tut mir leid. Doch hier könnt Ihr nicht bleiben.“
Dann wendet sich der Mann von Ahmed und Fatima ab.
„Aber…“, stammelt Ahmed. „Aber wir… bitte…“
Ahmed fleht mit letzter Kraft seiner Kehle um einen Platz zum Übernachten. Der Mann hält noch einmal an und dreht sich um.
„Wir haben einen Stall!“ ruft dieser. „Drei Schweine und fünf Ziegen leben darin. Wenn ihr den Gestank aushält, könnt ihr zwischen dem Vieh übernachten. Einen Eimer Wasser könnt ihr auch haben. Morgen Früh um sechs müsst ihr weiter. Wenn das für euch annehmbar ist, kommt mit. Wenn nicht, dann könnt ihr gleich weiter ziehen.“
Ahmed lächelt. „Danke für deine Großzügigkeit, hab großen Dank“, sagt er und küsst seine Frau auf die Stirn.
„Und vor allem danke ich dir, oh Herr“, fügt er mit ehrfürchtigem, gen Himmel gerichteten Blick hinzu.
Ahmed legt seine Frau in den dunklen Sand, um sich langsam erheben zu können. Dann versucht er, seine Frau wieder auf seine Arme zu nehmen, doch seine Kräfte reichen nicht aus.
„Kommt ihr nun oder nicht?“ ruft der Bauer ungeduldig. „Ich habe nämlich nicht bis morgen Früh Zeit.“
„Bitte geh nicht“, fleht Ahmed. „Ich brauche deine Hilfe.“
„Was brauchst du?!“ erwidert der andere und setzt sich hastige Schritte in Richtung Ahmed. Er überragt Ahmed um einen Kopf, als er nach wenigen Sekunden aufgebäumt vor ihm steht. Wortlos und mit ernster Miene starrt er Ahmed an.
„Was hast du vor?“ fragt Ahmed leise.
Der Bauer schüttelt den Kopf.
„Was wohl?“ entgegnet er schließlich, beugt sich zu Fatima und nimmt sie behutsam auf seine Schulter.
„Komm, gehen wir. Morgen müsst ihr wieder bei Kräften sein“, brummt der Mann und geht, Seite an Seite mit Ahmed, dem Haus unter dem Stern entgegen.
Nach wenigen Minuten haben sie den Stall erreicht. Es stinkt erbärmlich, doch Ahmed denkt nur, sich nach höchstens einer Stunde daran zu gewöhnen.
„Ahmed“, stöhnt Fatima, als der Mann sie ins Heu legt. „Ahmed… ich glaube, es ist gleich so weit.“
Fatimas Stöhnen wird lauter, die Wehen haben bereits eingesetzt.
„Auch das noch“, brummt der Bauer. „Was macht ihr mir für Arbeit. Außerdem bin ich keine Hebamme.“
„Bitte bring ihr einen Eimer Wasser“, ersucht Ahmed und hält die Hand seiner Frau fest. „Vielleicht kannst du deine Frau holen, um bei der Geburt zu helfen.“
Der Bauer murmelt etwas Unverständliches, dann eilt er aus dem dunklen Stall hinaus. Minuten vergehen, die Ahmed wie eine Ewigkeit erscheinen. Gerade rechtzeitig vor der Geburt erscheint der Bauer mit seiner Frau im Stall.
„Sie werden überleben“, flüstert die Frau nach einem Augenblick Ahmed zu. „Deine Frau und das Kind werden noch lange unter dem Licht der Sonne weilen.“
Dann endlich gibt sie Fatima zu trinken, während die Geburt unaufhaltsam voranschreitet. Die Worte der Bäuerin scheinen Fatima ebenso wie das Wasser ungeahnte Kräfte zu geben, die Geburt zu überstehen.
„Lange sollst du unter dem Licht der Sonne weilen, mein Sohn“, sagt Ahmed voller Glück, als Fatima das Kind schließlich entbunden hat. Dann küsst er seine Frau in nie empfundener Freude und Dankbarkeit.
Kurze Zeit später öffnet sich wieder die Tür des Stalles. Menschen aus der Nachbarschaft mit brennenden Kerzen in der Hand stehen an der Türschwelle. Das schwache Kerzenlicht erlaubt den Blick in eine Ecke des Stalles, in der, in Lumpen gewickelt, ein Kind neben Fatima liegt.
„Gott der Große,“ sagt Ahmed mit Tränen in den Augen. „Ewig sei dir Dank für dieses Glück.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen